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Je näher die Wahl in Amerika rückt, je weiter Trump in den Umfragen vorne liegt, umso gefragter ist der US-amerikanische Demokratieforscher Daniel Ziblatt. Ziblatt ist Professor an der Harvard-Universität, und er leitet die Abteilung »Transformationen der Demokratie« am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Sein Buch »Wie Demokratien sterben und was wir dagegen tun können«  hat es in die Bestsellerlisten geschafft, unter anderem in der New York Times. Sein zweites Buch »Die Tyrannei der Minderheit« ist eben erschienen, und Ziblatt ist nach Berlin gereist, um es vorzustellen – vor allem aber, um über sein Thema zu sprechen.Er soll das Mikrofon in die Hand nehmen und erklären, wie es bloß so weit kommen konnte. Soll einordnen, wie sehr sich die republikanische Partei seit 2016 vom demokratischen Konsens entfernt hat und was den USA bei einer Wiederwahl Trumps droht. Und ja, auch das schimmert in den Fragen der Zuschauer durch, auf die Ziblatt in Berlin bei einer Podiumsdiskussion, einem Seminar an der Freien Universität und einem Auftritt bei der Digitalmesse republica trifft: Er soll auch ein bisschen Hoffnung machen: Was könne man denn jetzt tun, auch hier in Deutschland im Umgang mit der AfD? Ob zum Publikum oder im Interview: Ruhig spricht Daniel Ziblatt, 51 Jahre alt, mit einem fast sanften Tonfall, der ein Kontrast zu seinen Worten darstellt, die ernster nicht sein könnten.

LEIBNIZ Herr Ziblatt, wie steht es aktuell um die amerikanische Demokratie?

DANIEL ZIBLATT Seit Trump 2016 Präsident wurde, hat es einen deutlichen Rückgang der Demokratiewerte in den Vereinigten Staaten gegeben. Damals lagen die USA im Global Freedom Index der traditioinsreichen Nichtregierungsorganisation »Freedom House« bei einem Wert von 94 von 100 Punkten und damit auf der gleichen Stufe wie Kanada oder Großbritannien. 2022 standen die USA bei 83 Punkten, auf einer Stufe mit Rumänien und zwei Punkte hinter Argentinien. Das mag erschrecken, doch man muss sich vor Augen halten, dass die damalige Trump-Regierung versucht hat, die Briefwahl zu torpedieren und Wahlhelfern Gewalt angedroht wurde.

Dennoch schicken die Republikaner erneut Donald Trump ins Rennen und damit einen Kandidaten, der seine Niederlage bei der letzten Präsidentschaftswahl nicht akzeptiert hat und der bereits jetzt mit Gewalt seiner Anhänger droht, sollte er erneut verlieren. Sind die Republikaner noch eine demokratische Partei?

Es gibt sehr klare Kriterien, wann eine Partei sich der Demokratie verpflichtet fühlt und wann nicht mehr. Wahlergebnisse müssen akzeptiert werden, ob man nun gewonnen oder verloren hat. Politische Gewalt muss unmissverständlich zurückgewiesen werden. Außerdem muss mit antidemokratischen Kräften gebrochen werden. Diese Kriterien hat der spanische Politikwissenschaftler Juan Linz aufgestellt. Danach haben große Teile der Republikanischen Partei und ihre führenden Vertreter den Boden der Demokratie verlassen.

Die Republikanische Partei fühlt sich nicht mehr voll an die Demokratie gebunden.

DANIEL ZIBLATT

Das sind schwerwiegende Vorwürfe gegen die Republikaner – und keine guten Nachrichten für das politische System in den USA, das ja maßgeblich von den zwei großen Parteien, den Republikanern und Demokraten, geprägt ist.

Ja, das stimmt, es sind schwerwiegende Anschuldigungen. Doch Donald Trump hat die Ergebnisse der Wahl von 2020 nicht akzeptiert. Auch viele weitere Republikaner sprechen von einer »gestohlenen« Wahl, andere schweigen dazu oder verhalten sich indifferent. Dann gab es die gewalttätige Attacke auf den Kongress vom 6. Januar 2021 und damit eine Attacke auf die amerikanische Demokratie. Einerseits spielen Trump und viele der führenden Republikaner die Bedeutung dieses Angriffes herunter, andererseits stilisieren sie die Angreifer zu Helden. Als Präsident würde Trump sie begnadigen. Hier findet also keine Distanzierung von politischer Gewalt statt. Wenn politische Führer sich so verhalten, wenn sie schweigen statt zu verurteilen, dann müssen wir feststellen, dass die Republikanische Partei sich nicht mehr voll an die Demokratie gebunden fühlt.

Wie konnten die Republikaner sich so schnell so weit vom demokratischen Konsens entfernen, quasi eine 180 Grad-Wendung vollziehen?

Da müssen wir ein Stück in der Geschichte zurückgehen. Erst mit dem Wahlrechtsgesetz von 1965 wurde das Wahlrecht auf alle erwachsenen US-Bürger und damit auch auf die afroamerikanische Bevölkerung in den Südstaaten ausgedehnt. Erst ab diesem Moment war die USA eine vollwertige Demokratie. Gleichzeitig wurden Gesellschaft und Wählerschaft diverser. Eine Spaltung tat sich auf. Während die Demokraten eine Heimat für all diese verschiedenen Wähler und vor allem in den Städten immer stärker wurden, blieben die Republikaner eine überwiegend weiße und christliche Partei, die bis heute vor allem in den ländlichen Räumen gewählt wird. Diese Entwicklung machte den weißen, republikanischen Wählern Angst.

Angst wovor?

Angst davor, nicht mehr die Mehrheit zu sein. Angst davor, den sozialen Status zu verlieren. Daraus entwickelte sich das Narrativ, dass ihnen ihr Land weggenommen werden würde und ihre Art zu leben in Gefahr sei. 1976 waren 80 Prozent der Amerikaner weiß und christlich. Heute sind es 43 Prozent. Aus dieser Angst heraus, ist es einfacher sich gegen das demokratische System zu wenden, sich zu radikalisieren, vor allem, wenn diese Angst als politisches Kapital genutzt wird. Tatsächlich sind die Republikaner an einem Punkt angekommen, an dem diejenigen mit den radikaleren Positionen als Kandidaten aufgestellt werden.

Im August 1963 protestierten in Washington mehr als 200.000 Menschen für die Abschaffung der Rassendiskriminierung in den USA. Zum Abschluss der Veranstaltung hielt Martin Luther King seine berühmte Rede »I have a dream«.
Eine junge Afroamerikanerin gibt bei der US-Präsidentschaftswahl 1964 ihre Stimme ab.

Und dennoch gewinnen sie Wahlen.

Weil das Wahlsystem ihnen strukturelle Vorteile verschafft.

Wie das?

Da ist zum Beispiel das historisch gewachsene  System der Wahlmänner. Jeder Bundesstaat schickt Wahlmänner, die den Präsidenten wählen, insgesamt sind es 538. Die Anzahl der Wahlmänner pro Bundesstaat spiegelt aber nicht die exakte Bevölkerungszahl wider. Tatsächlich werden die kleineren, ländlicheren Bundesstaaten bevorzugt, und die wählen die Republikaner.

Ein Wahlmann aus Kalifornien repräsentiert 700.000 Wählerstimmen, ein Wahlmann aus Delaware nur 350.000.

Würden die Präsidenten direkt gewählt werden, wären sowohl Bush Senior 2000 als auch Trump 2016 nicht an die Macht gekommen. Tatsächlich hatte Hillary Clinton drei Millionen Stimmen mehr als Trump.

Und wie steht es mit den Wahlen zum Senat?

Jeder Bundesstaat schickt zwei Senatoren, unabhängig davon wie bevölkerungsstark er ist. Ein Senator aus dem ländlichen Wyoming mit 500.000 Einwohner ist daher genauso viel wert wie ein Senator aus Kalifornien mit 40 Millionen Einwohnern. Auch das bevorzugt die Republikaner. Schließlich ist da noch der Oberste Gerichtshof in den USA. Seine neun Mitglieder werden vom Präsidenten auf Lebzeiten ernannt und müssen dann durch die Zustimmung vom Senat berufen werden. Aktuell ist dieser Gerichtshof mehrheitlich konservativ besetzt, den Ausschlag dazu gaben die drei Richter, die von Trump ernannt und vom republikanisch dominierten Senat bestätigt wurden. Diese Richter prägen die USA mit ihrer Rechtssprechung jetzt für die nächsten Jahrzehnte, denn sie sind auf Lebenszeit besetzt und gegen ihre Entscheidungen können an keinem anderen Gericht Rechtsmittel eingelegt werden.

Wie groß ist die Chance, all das zu ändern?

Die Demokratie muss demokratisiert werden. Aber das ist sehr schwierig, da hierfür eine Verfassungsänderung nötig ist. Dieser müssten Senat und Repräsentantenhaus mit einer Zweidrittelmehrheit und drei Viertel aller Bundesstaaten zustimmen.

Die Wähler der Republikaner haben Angst davor, nicht mehr die Mehrheit zu sein.

Wahlergebnisse bei der amerikanischen Präsidentschaftswahl 2020.

Die USA werden kein autoritäres Ein-Parteien-System werden.

Was können die Demokraten in den USA hier und jetzt tun, um die Demokratie zu erhalten?

Es braucht einen Schulterschluss all jener Kräfte, die die Demokratie bewahren wollen. Von links bis konservativ müssen alle zusammenstehen. Nur in einem breiten Bündnis können in den USA die Wahlen für die Demokraten gewonnen werden, auch in den ländlichen Regionen.

Das ist in Deutschland ja durchaus ähnlich.

Das stimmt, wir sehen aktuell, wie sich die Zivilgesellschaft gegen die AfD zusammenschließt und auf die Straße geht. Ob Kirchen, Gewerkschaften oder Unternehmen, alle sind dabei. Politiker wiederum dürfen nicht der Versuchung erliegen, für den eigenen Machterhalt mit antidemokratischen Kräften eine Koalition zu bilden. Die Brandmauer, wie das in Deutschland genannt wird, muss stehen, das gilt auch für die USA und andere Länder. Die Geschichte hat gezeigt, dass viele Demokratien erst dann sterben können, wenn halbloyale Demokraten den Feinden der Demokratie den Weg zur Macht bereiten. Das gilt insbesondere für eine so alte und reiche Demokratie wie die USA.

Sollte Trump 2024 gewinnen, möchte er »Diktator für einen Tag« sein. Wird die US-Demokratie ein zweites Mal Trump überleben?

Ich hoffe es. Ich denke es. Die USA werden kein autoritäres Ein-Parteien-System werden. Dafür sind die Struktur des Staates, der Föderalismus, die Gerichte, aber auch die demokratische Partei zu stark aufgestellt. Es wird zu großen Abwehrkämpfen kommen, gegen das, was Trump vorhat. Das wird Unruhe und Konflikte ins Land bringen. Ich glaube aber nicht, dass wir an einen Punkt kommen werden, von dem aus keine Rückkehr mehr möglich ist. Wenn Trump gewinnt, ist das eine sehr schlechte Nachricht für die amerikanische Demokratie. Und trotzdem müssten wir uns am Tag danach überlegen, wie wir mit der neuen Situation umgehen, denn der Kampf für die Demokratie wird weitergehen.

Mit Ihren Büchern wollen Sie aufrütteln und wachmachen. Warum ist Ihnen Ihr Thema so wichtig?

Mein Großvater, sein Bruder und meine Großmutter kamen 1914 aus Russland in die USA. Sie mussten ihre Schwestern zurücklassen, die später im Holocaust ums Leben kamen. Die USA haben meiner Familie eine Zuflucht gegeben. Jeder, der diese Familiengeschichte hat, wird verstehen, dass da ein liberaler Patriotismus in mir ist, der eben aus meiner Geschichte erwachsen ist. Die USA sind das System, sind der Platz, an den Menschen kommen können, um ihr Leben zu retten. Als Wissenschaftler habe ich mich mit Demokratien beschäftigt und mit der Frage, wie diese zerstört werden können. Ich habe mich mit der Weimarer Republik beschäftigt, mit Italien und Mussolini, mit der Türkei, mit Ungarn. Als die Krise der Demokratie 2016 in die USA kam, war ich frustriert darüber, wie die Menschen falsche historische Analogien gezogen haben. Ich hoffe, dass mein Wissen weiterhelfen kann, deswegen haben mein Kollege Steven Levitzsky und ich die Bücher geschrieben.

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