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In den USA ticken die Uhren ein wenig anders. Und das ist ganz und gar wörtlich zu nehmen. Denn die 24-Stunden-Schreibweise von Uhrzeiten, etwa »16:30 Uhr« für halb Fünf und »13:00 Uhr« für Eins, sind jenseits des Atlantiks fast gänzlich unbekannt. Abgesehen von militärischen Kontexten, in denen die Schreibweise »16:30« durchaus gebräuchlich ist, können Amerikaner*innen – bezogen auf die Uhrzeit – bloß bis zwölf zählen: Aus 16:30 wird kurzerhand 4:30, versehen mit dem Suffix »pm« (»post Mediam«), um peinliche Verwechslungen mit dem 4:30 im Morgengrauen zu vermeiden.

Die »Zweimal-Zwölf-Stunden«-Einteilung des Tages ist eine eigenartige, von europäischen Konventionen abweichende Schreibweise. Doch völlig harmlos, solange man nicht (wie der Autor dieses Artikels) an einer der Links-Rechts-Schwäche sehr ähnlichen »PM-AM-Schwäche« leidet.

Bedauerlicherweise ist der Zwölf-Stunden-Tag nicht der einzige metrologische Alleingang der Vereinigten Staaten. Im Gegenteil: Nahezu jede erdenkliche Maßeinheit ist in den USA anders als in nahezu jedem anderen Land der Welt.

Meilen statt Kilometer, Grad Fahrenheit statt Grad Celsius. US-Bürger*innen nutzen Unzen sowohl für Volumina als auch für Massen, und selbst die physikalische Leistung wird in Horsepower statt in Watt angegeben – wobei die amerikanische Horsepower mit 745 Watt freilich eine andere Größe darstellt als die im hiesigen Autohandel nicht unübliche Pferdestärke, die sich auf 735 Watt beläuft.

Wie konnte es dazu kommen?

Wenn es um die Uhrzeit geht, können Amerikaner nur bis zwölf zählen.

Der amerikanische Sonderweg ist in der Tat seltsam, sagt die Physikerin Daniela Schneevoigt vom Deutschen Museum. Denn es gab mal eine Zeit, in der die USA Vorreiter in der Internationalisierung und der Vereinheitlichung der Maße waren. 1875 gehörten die Vereinigten Staaten zu den 17 Unterzeichnern des Meter-Vertrags, der es sich zum Ziel gesetzt hatte, Meter und Kilogramm als international gültige Standard-Einheiten zu verwenden. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Christina Newinger, die ebenfalls Kuratorin am Deutschen Museum ist, bereitet Schneevoigt an dem Leibniz-Forschungsmuseum in München gerade die Ausstellung »Alles in Maßen, Maße für alle« vor, die ab 2025 Einblicke in die Welt der Metrologie, der Lehre des Messens, geben wird. Messen ist etwas Menschliches, sagt Schneevoigt. Maßeinheiten bilden unsere Erlebniswelt ab und sind daher immer auch etwas unnatürlich, ein theoretisches Konstrukt.

Maßeinheiten sind also Menschenwerk. Klar. Wir Menschen unterscheiden uns vom Tier auch dadurch, unserer Umwelt Zahlen und Größen zuzuordnen, wir ziehen Vergleiche, schätzen ab. Und wir wollen es genau wissen. Spätestens seit Beginn von Ackerbau und Viehzucht und mit dem Aufkommen der ersten Hochkulturen war es vorbei mit dem Augenmaß: Land musste gerecht verteilt, Feldfrüchte genau gewogen – und exakte Steuerabgaben eingetrieben werden.

Die Nippur-Elle im alten Ägypten hat den Anfang gemacht , sagt Schneevoigt, sie ist die älteste Längeneinheit, auf die sich die Menschen einer ganzen Region haben einigen können.

Im Mittelalter und der frühen Neuzeit waren Maßzahlen, die »menschlichen« Größen entsprechen, der Standard. Handwerker, Bauern, Architekten hatten in der Regel keine Maßbänder oder Zollstöcke zu Hand. Was aber immer zu Hand war, war die Hand selbst, nebst anderer Körperextremitäten. Die Historie kennt daher eine ellenlange Liste an Maßeinheiten, die sich an dem unmittelbaren Längen der Körperteile orientierten: Man maß mit Daumen, Handspannen, Schritten, Unterarmen, Armlängen und Schulterspannen, die allesamt untereinander in meist ganzzahligen Verhältnissen lagen: Zwölf Inch entsprachen so zum Beispiel einem Fuß, 36 Inch einer Armspanne, einem Yard, der entsprechend drei Fuß bemaß.

Die an Körpergrößen orientierte Messmethode hatte jedoch einen entscheidenden, sogar offensichtlichen Haken: Keine zwei Körper sind gleich. Wessen Fuß ist genau ein Fuß lang – und welche Armspanne ein Yard?

Was Maßeinheiten benötigen, um Maßeinheiten zu werden, ist Vergleichbarkeit. An vielen Rathäusern finden wir noch heute sogenannte öffentliche Maße, erklärt Physikerin Schneevoigt, Metallstangen etwa, die im Mittelalter die Längen von Ellen und Füßen verbindlich vorgaben. Öffentliche Maße waren der Grundstock für die Fülle an regionalen Maßen, die sich im Europa des Mittelalters und der frühen Neuzeit ausbreiteten.

Allein der Fuß wurde in zahlreichen Städten und Regionen unterschiedlich aufgefasst: Neben dem in Frankreich benutzten Pariser Fuß und dem in England verwendeten Londoner Fuß, gab es den Amsterdamer Fuß, den Berner Fuß, den Schwedischen Fuß und den Venezianischen Fuß – allesamt ungleichlang. Doch den Gipfel des Regionalchaos bildete der Staaten-Flickenteppich des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation: Auf deutschem Boden maß man, je nachdem aus welchem Fürstentum oder welcher Stadt man kam, mit dem Rheinischen Fuß, dem Prager Fuß, dem Bamberger, dem Hamburger oder dem Württembergischen Fuß. Um nur einige wenige zu nennen.

Auch die amerikanischen Längeneinheiten Inch, Fuß und Meile sind auf Körperteile und Agrargrößen zurückgehende Regionalmaße, die untereinander in bestimmten Verhältnissen in Beziehung stehen: Den Anfang macht der Inch, dessen englischer Vorvater sich an der Länge dreier hintereinander gelegter Gerstenkörner orientierte. Der Fuß ist definiert als zwölf Inch und eine Meile entspricht 5.280 Fuß, beziehungsweise 8 Furlongs. Der Furlong wiederum ergibt sich aus dem Flächenmaß »Acre«. Ein Acre misst 1/10 Furlong x 1 Furlong, das entspricht in etwa der Fläche Feld, die ein Ochsengespann innerhalb eines Tages beackern kann.

Mit den Fortschritten in Wissenschaft und Technik und mit der Industrialisierung mussten neue, überregional vergleichbare Maßeinheiten her. Ein Längenmaß, das nicht mehr – örtlich beschränkt und überall unterschiedlich – an den Rathäusern Europas zu finden war. Ein Längenmaß, das zum Symbol der Aufklärung werden sollte, ein Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit; das Zeitalter der Aufklärung sollte den Siegeszug von Meter und Kilogramm einläuten.

Es gab da einen Haken: Wessen Fuß ist schon genau einen Fuß lang?

Wo Napoleon nicht herrschte, herrschte auch nicht der Meter.

Es ist wenig verwunderlich, dass moderne Maßeinheiten im Dezimalsystem erstmals im Frankreich der Revolution, während der Terrorherrschaft der Jakobiner unter Maximilien de Robespierre eingeführt wurden. Die Jakobiner hassten althergebrachte Größen und liebten das Dezimalsystem. Ginge es nach ihnen, hätte heute die Woche zehn Tage, der Tag zehn Stunden und die Stunde 100 Minuten. Solche Revolutionsuhren gibt es tatsächlich, sagt Schneevoigt, sie zeigen dann zehn statt zwölf Stunden an. Die Jakobiner führten einen Kalender ein, der sich zwar wie unserer in zwölf Monate einteilte, diese aber immer genau 30 Tage gehabt hätten. Auch der französischen Elle ging die Terrorherrschaft an den Kragen: Statt ihr führte der Nationalkonvent 1793 ein Maß ein, dass dem Zehnmillionsten Teil der Länge zwischen Nordpol und Äquator entsprach: den Meter. Ein Kilogramm wiederum wurde definiert als die Masse von Wasser, die in einen Würfel der Kantenlänge von 0,1 Metern passt.

Zwar verlor Robespierre 1794 seinen Kopf und mit ihm der Revolutionskalender an Bedeutung. Meter und Kilogramm aber wurden in Frankreich als Maßeinheiten der Wahl beibehalten und sollten mit Napoleon auch große Teile Europas erobern. Wo Napoleon nicht herrschte, herrschte folglich auch nicht der Meter. Insbesondere im Vereinigten Königreich und seinen zahlreichen Kolonien, samt den jüngst unabhängig gewordenen Vereinigten Staaten von Amerika, benutzte man auch nach Napoleons Feldzügen noch Fuß, Unze und Meile.

Die Amerikaner indes waren einer Nutzung des Mitte des 19. Jahrhunderts in Kontinentaleuropa verbreiteten metrischen Systems anfangs nicht abgeneigt, und neben der Unterzeichnung des Meter-Vertrags wurde 1866 im Kongress der »Metric Act« beschlossen, der die Nutzung des metrischen Systems legalisierte. Eine flächendeckende Nutzung der europäischen Einheiten schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein.

Die Kraft, die einem Gebrauch der metrischen Einheiten in den USA einen Strich durch die Rechnung machte, war die aufstrebende US-amerikanische Industrie, die in der Umstellung auf Meter und Kilogramm vor allem eine Kostenfrage sah: Neue Maßeinheiten bedeuteten neue Schraubenlängen, neue Standardbreiten von Bahnschienen, neue Schiffsmaße. Ironischerweise sind es heute in Amerika vor allem Industrie, Wissenschaft und Technik, die, anders als die Bevölkerung, lieber in metrischen Einheiten misst und rechnet. In der Wissenschaft wird das metrische System benutzt. Auch in den USA, weiß Kuratorin Christina Newinger, Daniela Schneevoigts Kollegin vom Deutschen Museum in München. Das kann Folgen haben: Der Verlust der Marssonde »Mars Climate Orbiter« geht zurück auf einen Einheitenfehler: Die NASA rechnete mit metrischen Einheiten; der Zulieferer Lockheed Martin dagegen im imperialen System.

Heute werden die international gebräuchlichen Einheiten (die »SI-Basiseinheiten«) über Naturkonstanten definiert, etwa über die Lichtgeschwindigkeit oder über die Strahlungsfrequenz von Caesium. Das ist das Schöne an den SI-Einheiten: Sie hängen nicht von Objekten ab, sondern sind – prinzipiell – für jeden zugänglich. Die Naturkonstanten sind überall auf der Welt gleich groß, sagt Newinger.

Aber sind unsere Einheiten für Länge, Temperatur und Masse tatsächlich besser als ihre amerikanischen Pendants? Ja, das sind sie; ohne jeden Zweifel. Wegen ihrer Konvertibilität, ihrem internationalen Gebrauch und nicht zuletzt aufgrund ihrer ursprünglichen Definition sind Meter, Grad Celsius und Kilogramm der Konkurrenz um Yard, Grad Fahrenheit und Pfund meilenweit enteilt. Ein Meter folgt dem Erdumfang, der Liter folgt dem Meter, das Kilogramm folgt dem Liter, und dass Wasser genau bei 0° Celsius von fest zu flüssig und bei 100° Celsius von flüssig zu gasförmig übergeht, ist natürlich auch kein Zufall.

Doch Revolutionskalender und Revolutionsuhr zeigen auch: Nur weil Maßeinheiten sinnvoll(er) erscheinen – und sinnvoller definiert sind, heißt das nicht, dass sie automatisch gebraucht werden. Einheiten sind auch Gewohnheiten. Oder wären Sie etwa bereit sich an einen 10-Stunden-Tag in einer 10-Tage-Woche zu gewöhnen?

Aber sind unsere Einheiten wirklich besser als ihre amerikanischen Pendants? Ja, ohne jeden Zweifel!

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