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Ein eher unrühmlicher Titel: Für viele gilt der Nacktmull als hässlichstes Tier überhaupt. Dabei leben die etwa mausgroßen Säugetiere unter der trockenen Erde im Westen Afrikas ein sehr besonderes und langes Leben: in großen Kolonien, mit einer Königin – und ohne Angst vor Krankheiten. Thomas Hildebrandt vom Berliner Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung erforscht es.

LEIBNIZ Herr Hildebrandt, wie sieht ein Nacktmull aus?

THOMAS HILDEBRANDT Er kriegt fast jedes Jahr den Titel hässlichstes Säugetier, und man kann sich einen Nacktmull in etwa so vorstellen: Er sieht ein bisschen aus wie eine Bockwurst mit großen Zähnen, die etwas liegen geblieben ist. So würden es wahrscheinlich Menschen beschreiben, die die Nacktmulle noch nie kennengelernt haben. Nacktmulle sehen etwas ungewöhnlich aus, sind auch als Sonderlinge der Natur beschrieben. Wenn man sie aber kennenlernt, dann dreht sich dieses Bild komplett. Denn diese kleinen Kerlchen haben so viele Besonderheiten und sind sehr nette Tiere.

Bleiben wir noch mal beim Aussehen, bevor wir auf die liebenswerten Eigenschaften kommen, die die sonst noch haben. Also die sehen aus wie eine Wurst mit vier Beinen, haben einen kleinen Schwanz und zwei riesige Zähne vorne.

Genau. Mit diesen großen Zähnen buddeln die Nacktmulle ihre Tunnelsysteme. Sie beißen in die Erde. Und deswegen sind die Unterkieferzähne, die großen Schneidezähne, beweglich. Sie sind natürlich nur klein, aber wenn sie einem in den Finger beißen, dann tut das unheimlich weh. Und ihre Augen sind ebenfalls sehr klein, blind sind sie aber nicht. Das hat auch mit ihrer Lebensweise zu tun. Und die Haut der Tiere erscheint zwar nackt, aber da sind überall ganz kleine Sensorhaare. Ein Nacktmull nimmt sehr genau die Umgebungsstruktur auf, denn die Sensorhaare leiten Informationen zum Gehirn, um das Tunnelsystem und Temperaturunterschiede zu beschreiben.

Sie haben gerade gesagt, der Nacktmull lebt in Tunneln. Wo sind denn diese Tunnel normalerweise, wenn sie nicht bei Ihnen im Labor sind?

Der Nacktmull lebt am Horn von Afrika, also in Somalia, im Norden von Äthiopien, ein bisschen im Norden von Kenia und in Dschibuti. Die Tiere leben sehr unauffällig, dabei können ihre Tunnelsysteme Größen bis zu einem Fußballfeld erreichen, in denen dann bis zu 300 Individuen leben. Das Einzige, was den Nacktmull sichtbar macht, sind die ausbleibenden Ernteerfolge bei den Bauern, weil die Tierchen von unten die Süßkartoffeln wegfressen. Die Nacktmulle sind in dieser Region deshalb auch nicht besonders gern gesehen.

Was frisst er sonst noch?

Der Nacktmull frisst verschiedene Pflanzen, die in diesem sehr ariden, also trockenen Bereich von Afrika leben. Die dortigen Pflanzen haben die Eigenschaft, bei Regen große Mengen Wasser zu speichern, sodass eine knollenartige Wurzelkonstruktion entsteht. Der Nacktmull hat gelernt, diese Knollen so anzunagen, dass die Pflanze nicht stirbt. In seinem Fußballfeld großen Lebensraum erntet er die verschiedensten Pflanzen unterirdisch ab.

Ein Nacktmull stellt sich als Soldat der Schlange, während die anderen hinter ihm den Tunnel verschließen.

THOMAS HILDEBRANDT

Wie lebt der Nacktmull?

Der Nacktmull ist ein Säugetier, das eine Lebensweise wie eine Ameise oder eine Biene hat. Das ist im Säugetierbereich bisher nicht bekannt gewesen. In jeder Kolonie gibt es eine Königin, die alle Kinder gebärt. Alle anderen weiblichen Tiere sind steril und es gibt ein oder zwei männliche Tiere, die sich mit der Königin paaren dürfen. Alle anderen Tiere sind eine Art Sklaven für die Kolonie oder Helfertiere. Deshalb sprechen wir bei einer Nacktmull-Kolonie auch von einem Superorganismus – denn nur als Gemeinschaft schaffen sie es auf ihre besondere Art und Weise, diese rauen Lebensbedingungen zu managen.

Hat er denn Feinde in seinem Tunnelsystem?

Zum Beispiel Schlangen. Sie schlängeln gern in die Tunnel und versuchen, die Nacktmulle herauszuholen und zu fressen.

Und wie verteidigen die sich die Nacktmulle dann?

Bei einem Angriff stellt sich ein Nacktmull als Soldat der Schlange und die Tunnelbauer verschließen hinter diesem Individuum, das sich für die Kolonie opfert und mit der Schlange kämpft, den Tunnel . So ein Verhalten kennen wir sonst nur von Ameisen oder Bienen. Und dieser Superorganismus hat auch noch ganz andere Mechanismen.

Welche zum Beispiel?

Die Königin kriegt zwar die Babys, aber es gibt Hebammen, die ihr helfen. Und dann gibt es die Tunnelbauer und die Futterbesorger. Die Königin kommt aus dem Bau kaum heraus. Sie ist auch deutlich größer als die anderen Nacktmulle der Kolonie. Wir nennen das das Schulbus-System. Denn die Königin darf nicht zu dick werden, sonst würde sie im Tunnelsystem steckenbleiben. Sie muss aber auch alle Babys bekommen, die nötig sind, um so eine große Kolonie am Leben zu halten. Das heißt, sie wächst, nachdem sie Königin geworden ist, immer mehr in die Länge. Das ist durch eine Verlängerung der Wirbelsäule möglich – wieder ein Phänomen, was wir im Säugetierbereich nirgendwo anders finden.

Und wenn man so eine Kolonie von 300 Tieren hat und eine Königin, die ständig Nachwuchs bekommt, mit denselben Männchen, wie sorgt man dann dafür, dass es am Ende genetisch gut ausgeht und so eine Kolonie überlebensfähig ist.

Inzucht ist beim Nacktmull überhaupt kein Problem. Man muss dazu wissen, dass Inzucht ein Phänomen ist, das nur bei heterogenen Populationen auftritt, also bei Populationen wie uns Menschen, bei Mäusen oder Hunden. Wenn die Tiere alle unterschiedlich sind und wenn man sie dann sehr inzüchtig vermehrt, dann kommt es zur Akkumulation von ungünstigen oder schlechten Allelen. Diese Anhäufung führt dann zum Beispiel zu Missbildungen oder Empfindlichkeiten für bestimmte Krankheiten.

Und warum hat der Nacktmull damit kein Problem?

Weil der Nacktmull diese ungünstigen Allele nicht hat. Die Tiere waren über Millionen von Jahren so inzüchtig, dass sie diese Phase schon lange abgelegt haben. Das ist auch bekannt aus den Inzuchtlinien für Mäuse: Wenn man bei der Zucht durch ein Tal schreitet, in dem sehr viele Mäuse sterben oder erkranken, diese Phase aber übersteht, dann wird die Mäuselinie stabil und die Krankheiten treten dann nicht mehr auf.

Der Nacktmull ist sozusagen also schon auf einer höheren Stufe angekommen. Er wird ja auch sehr alt – wie hat man das gemerkt?

Das ist eigentlich das besondere Kriterium, das wir beim Nacktmull als erstes gefunden haben. »Eusozialität« ist der Begriff für das Leben mit einer Königin, einem Pascha und einem Sklavenstaat. Die Eusozialität hat dazu geführt, dass Verhaltensforscher Nacktmulle in Labore mitgenommen haben, denn man wollte wissen, wie ein Säugetier diese Lebensweise durchführt. Und dabei ist aufgefallen, dass der Nacktmull – der so groß wie eine Maus ist – viel länger lebt. In den Laboren lebt eine Maus zwei Jahre, eine Ratte drei, ein Kaninchen, vier bis sieben, ein Meerschweinchen so sieben bis acht Jahre. Aber der Nacktmull starb nicht, Jahrzehnte lang nicht. Das ist ganz ungewöhnlich, weil die Lebenserwartung eigentlich von der Körpergröße abhängig ist. Je größer man ist, umso wahrscheinlicher ist es, dass man lange lebt. Beim Nacktmull dürfte die Lebenserwartung nach diesem biologischen Gesetz maximal fünf Jahre sein – aber die Nacktmulle können 38 Jahre alt werden.

Wenn die Königin abgesetzt wird – meist durch Tötung – sterben sehr viele Nacktmulle in Kämpfen.

Und warum werden sie so alt?

Das ist die große Frage. Sehr viele Altersforschungsinstitute haben Nacktmulle in ihren Laboren, um diese Frage zu beantworten. Es scheint der Schlüssel für die Unsterblichkeit zu sein, den der Nacktmull dort gefunden hat. Es gibt schon ein paar Hinweise, zum Beispiel eine hohe Konzentration an Hyaluronsäure in den Zellen, eine völlig andere Funktionsweise der Mitochondrien, also der Kraftwerke in den Zellen. Aber auch für seine Lebensweise ist es wichtig, dass er sehr lange lebt. Ansonsten würde dieses komplexe soziale System jedes Mal auseinanderbrechen, wenn die Königin stirbt. So kann die Königin fast zwei Jahrzehnte in ihrer Machtposition verbleiben und der Staat ist stabil.

Ist dieses lange Leben vielleicht auch ein bisschen der Lohn für ihre Hässlichkeit?

Ich würde denken, dass der Nacktmull sich selber nicht hässlich findet. Die finden sich teilweise sehr attraktiv. Sie haben auch ein sehr intensives Familienleben unter diesen doch sehr kommunenartigen Bedingungen. Das Einzige, was wir beim Nacktmull finden, ist, dass es, wenn eine Königin in ihrer Funktion nicht mehr vollständig den Ansprüchen genügt, zu schweren Spannungen in diesen großen Gemeinschaften kommt.

Was bedeutet das?

Wenn die Königin abgesetzt wird – meist durch Tötung, das ist sehr hart, weil dieser Superorganismus sich keine insuffiziente Königin leisten kann – dann sterben sehr viele Nacktmulle in Kämpfen. Die Nacktmulle können riesige Tunnel buddeln. Sie können sich aber auch mit ihren Zähnen sehr locker die Wirbelsäule durchbeißen oder die Nieren zerquetschen. Es gibt kaum beschreibungswürdige Erkrankungen beim Nacktmull – aber diese Bissverletzungen mit Todesfolge sind Todesursache Nummer eins und können zu großen Verlusten führen.

Und wie kehrt nach diesen Kämpfen dann wieder Frieden ein? Sie haben Nacktmulle bisher als ganz friedliche Tierchen geschildert.

Sie sind auch sehr friedlich, wenn sie eine straffe Hierarchie aufgebaut haben. Diese Kämpfe sind hochspannend, weil sie in unterschiedlichen Subpopulationen in der Kolonie stattfinden. Es gibt Allianzen, also es bringen sich nicht nur die weiblichen Tiere um, was man erwarten würde, denn es ist der Kampf um die Königinnenschaft. Es werden männliche Tiere dazu angehalten, bestimmte Weibchen zu verteidigen und zu inthronisieren. Und wer das am besten schafft, der ist am Ende Königin. Wenn allerdings Babys da sind, dann beruhigt sich dieses Kampfgeschehen sofort und die Tiere gehen wieder in ihre Routine über. Denn wenn es Babys gibt, dann muss irgendwo eine Königin sein. Und das Pflegeprogramm für die Nachkommen erzeugt dann einen völligen Waffenstillstand zwischen den Parteien.

TONSPUR WISSEN

Das Gespräch mit Thomas Hildebrandt vom Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung in Berlin, können Sie in voller Länge im Podcast Tonspur Wissen von Rheinischer Post und der Leibniz-Gemeischaft hören. Für leibniz haben wir es leicht gekürzt und bearbeitet. Im Podcast widmet sich die Journalistin Ursula Weidenfeld aktuellen Themen und Entwicklungen und spricht darüber mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus der Leibniz-Gemeinschaft. Alle Folgen des Podcasts finden Sie hier.

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