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Wir werden mehr Nahrung aus dem Meer brauchen.

ANDREAS KUNZMANN

Hinter einer Sicherheitsschleuse, die in eine fensterlose Halle auf dem Campus der Universität Bremen führt, greift Andreas Kunzmann nach der Nahrung der Zukunft. Sein Arm fährt bis zum Ellbogen in einen von UV-Licht bestrahlten Tank, sucht kurz, packt schließlich ein Wesen mit einem linsenförmigen, geleeartigen Körper. Mit in alle Richtungen zappelnden Tentakeln verlässt es in Kunzmanns geschlossener Hand seinen künstlichen Lebensraum. Wir wollen die Ernährungsgewohnheiten der Europäer verändern, sagt Kunzmann, während er die Mangrovenqualle in den Tiefkühlschrank legt. Wenig später wird er sie wieder herausholen und für einen Salat nach japanischer Art in Streifen schneiden.

In ein paar Jahrzehnten werden zehn bis zwölf Milliarden Menschen auf der Erde leben, sagt Meeresbiologe Kunzmann, der die Arbeitsgruppe »Experimentelle Aquakultur« am Leibniz-Institut für Marine Tropenforschung (ZMT) leitet. Die müssen wir irgendwie ernähren. Acker- und Weidefläche seien begrenzt, ebenso Süßwasser und Düngemittel. Wir werden mehr Nahrung aus dem Meer brauchen. Kunzmanns Team erforscht, wie sich Fische, Muscheln, Krebse, Algen und eben Quallen so züchten lassen, dass mehr Menschen satt werden – ohne dass es der Umwelt schadet.

Hand, die im Wasser nach einer Qualle greift.

Schon heute ist über ein Drittel der Bestände an wildem Fisch weltweit überfischt. Auch konventionelle Aquakultur, also die Zucht von Meerestieren in schwimmenden Käfigen oder an Land, ist selten nachhaltig: Stark nachgefragte Arten wie Lachs und Thunfisch stehen ganz oben in der Nahrungskette. Bis sie groß genug für den Teller sind, fressen sie das Vierfache ihres späteren Eigengewichts – oftmals in Form von Pellets aus Fischmehl, das aus kleineren Arten hergestellt wird. Nicht gefressenes Futter und die Ausscheidungen der Fische lösen sich im Meer.

In derart übersättigtem Wasser gedeihen bestimmte Algen unnatürlich gut, entziehen ihm Sauerstoff und gefährden so Korallenriffe oder Seegraswiesen. Die konventionelle Aquakultur arbeitet außerdem mit Hormonen und Medikamenten wie Antibiotika. Diese Stoffe sorgen für ein möglichst schnelles und reibungsloses Wachstum der Tiere, richten langfristig aber ebenfalls Schaden an. Hormone können in die Nahrungskette gelangen und schaden so letztlich auch dem Menschen. Zu großzügig verteilte Antibiotika wiederum fördern resistente Keime.

Qualle im Aquarium auf einer Lochplatte.
Tankbehälter am ZMT.
Meerestrauben im Aquarium.

Wir brauchen dringend Alternativen zu dieser Art von Aquakultur, sagt Kunzmann, der einen kurzen Vollbart und ein Poloshirt trägt, auf das ein Schiff gestickt ist. Besucher empfängt er im oberen Stock eines Atriums, wo eine Art Kommandobrücke mit stählerner Reling die Gebäudeteile des ZMT verbindet. Da bleibt er aber nicht lange; es zieht ihn in Richtung Maschinenraum.

Unterwegs hält er an einem Glaskasten, in dem ein Modell einer tropischen Küste in Miniatur aufgebaut ist: Im Wasser schweben neben Fischkäfigen Seile, an denen Muscheln kleben. An anderen wachsen Algen. Unter den Käfigen kriechen Seegurken, walzenförmige Verwandte der Seesterne und Seeigel. Die Muscheln nehmen kleinteilige Futterreste auf, die Algen filtern gelöste Nährstoffe aus dem Wasser, sagt Kunzmann. Die Seegurken wiederum fräßen Futterreste am Boden und die Ausscheidungen der Fische über ihnen. In einer solchen gemischten Aquakultur werden nicht nur überschüssige Nährstoffe sinnvoll genutzt, sagt Kunzmann. Die Fischfarmer können dadurch auch mehrere Produkte anbieten, damit ihr wirtschaftliches Risiko senken und die ganze Familie einbinden.

Neben Muscheln gehören auch Seegurken und Algen in vielen ost- und südostasiatischen Kulturen zur Alltagsküche. Einige Arten werden sogar als Delikatessen gehandelt. Das gilt auch für jene Gruppe von Nesseltieren, die hierzulande eher als Badespaßverderber gelten, nicht als Köstlichkeit auf dem Teller: Quallen. Auch sie lassen sich in nachhaltiger Aquakultur züchten. Und auch sie sind ganz selbstverständlich Teil des Speiseplans in Japan, Indonesien oder auf den Philippinen. Je nach Art kann ich Quallen braten, roh in Streifen zum Salat geben oder zu proteinreichem Fleischersatz weiterverarbeiten, sagt Kunzmann. Dass er eine Vorliebe für – aus europäischer Sicht – unkonventionelles Sea Food entwickelt hat, ist kein Zufall: Bevor er ans ZMT ging, lebte er acht Jahre in Indonesien.

Andreas Kunzmann zwischen Aquarien am ZMT.
Eine flache Qualle im Aquarium.
Mangrovenpflanzen im Aquarium am ZMT.
Aufeinandergestapelte Aquarien am ZMT.

Kunzmann führt quer durch das Atrium zu einem Seitengebäude und öffnet eine Tür, hinter der eine abstellkammergroße Sicherheitsschleuse liegt. Ein Bildschirm zeigt Stromversorgung, Temperatur, Sauerstoff- und Salzgehalt Dutzender Aquarien an. Am Boden stehen Gummistiefel in sämtlichen Erwachsenengrößen bereit. Dahinter liegt die MAREE. Die Abkürzung steht für Maritime Experimental Ecology, was so viel bedeutet wie eine künstliche, für Experimente geeignete Unterwasserwelt.

Die Halle hinter der zweiten Schleusentür ähnelt in Größe und Charme einer kompakten Tiefgarage, an den Decken verläuft ein Netzwerk aus Rohren und Leitungen. In den Aquarien, die reihenweise 29 gestapelt den Raum füllen, schwimmen Clownfische zwischen Korallen umher, wiegt Seegras seine säbelartigen Blätter in künstlicher Strömung. Eine Gruppe von Tanks ist bis auf einen Boden aus Lochblechplatten unmöbliert. Durch diese Becken schweben hunderte durchscheinende, zartrosa Wesen mit rundem Körper und nach oben gerichteten, unermüdlich wedelnden Tentakeln. Die größten Exemplare würden kaum auf einen Pizzateller passen. Die kleinsten wiederum, von denen der Tankboden wimmelt, könnten nicht einmal eine Centmünze verdecken.

Cassiopea andromeda ist die perfekte Qualle für die Aufzucht in Aquakultur, sagt Kunzmann. Während die meisten Arten frei durch die Meeresströmung schwebten, also viele Kubikmeter Lebensraum benötigten, lebe die als Mangrovenqualle bekannte Art quasi zweidimensional: Cassiopea pumpt Nährstoffe aus dem Meeresboden. Außerdem trägt sie in ihrem Gewebe Algen mit sich herum, die Photosynthese betreiben. Anders als die meisten Arten streckt sie deshalb ihre Tentakel stets in Richtung der Sonne (oder einer Lampe). Cassiopea kann sich praktisch von Licht ernähren, sagt Kunzmann — eine ideale Voraussetzung für die Haltung in Aquakultur.

Es dürften Umwege nötig sein, um von den kulinarischen Vorzügen zu überzeugen.

Das Exemplar, das er schließlich aus dem Wasser fischt, füllt ziemlich genau seine Handfläche aus. Quallen müssen vor dem Verzehr nicht gegart werden. Da sie weder ein Gehirn noch ein zentrales Nervensystem haben, empfinden sie vermutlich auch keinen Schmerz. Aber das wissen wir nicht mit Sicherheit, sagt Kunzmann und legt die Qualle auf einem weißen Kunststoffschälchen in einen Gefrierschrank. Der mutmaßlich schonendste Tod: Ein Wesen, das kaum feste Bestandteile enthält und sich nur mit einer hauchdünnen Membran von der Außenwelt abschirmt, kann sich nicht lange vor Kälte schützen: Die Temperatur von 25 Grad Celsius unter Null überlebt die Mangrovenqualle nur wenige Sekunden.

Auf den ersten Blick sind Quallen nicht besonders nahrhaft. Cassiopea besteht zu 97 Prozent aus Wasser, bei anderen Arten ist der Anteil ähnlich. Es braucht also sehr viel Qualle, um den Nährwert einer Languste oder eines Lachsfilets zu ersetzen. Da gerade Cassiopea kaum Nährstoffe benötigt, um zu wachsen, könnte sich die Zucht trotzdem rechnen – zumindest im Vergleich zu Fisch und Meeresfrüchten. Futter ist der Hauptkostentreiber in konventionellen Aquakulturen, sagt Kunzmann. Die Mangrovenqualle dagegen kommt in einem entsprechend angepassten Aquarium sogar mit künstlichem Meerwasser und Sonnenlicht zurecht. Sie könnte massenweise direkt dort gezüchtet werden, wo die meisten Menschen leben, nämlich in den Städten, sagt Kunzmann.

Er zupft Salatblätter, gibt Sojasoße in ein Schälchen, verschwindet kurz und kommt mit einer Handvoll Meerestrauben zurück. Die Rispen halb durchscheinender Kügelchen, etwas kleiner als Erbsen und von ähnlich leuchtendem Grün, stammen von einer der Algenarten, die er für gemischte Aquakulturen erforscht: Er stapelt Meerestrauben auf Feldsalat, holt die Qualle aus dem Gefrierer, entfernt die Tentakel, schneidet sie in Streifen und legt sie obenauf, dazu grober Pfeffer und Sesamkörner. Dieser Salat wird ziemlich genau so in Japan gegessen, sagt Kunzmann und reicht die Stäbchen.

Qualle auf weißem Kunststoffteller.
Andreas Kunzmann zerschneidet Qualle.
Andreas Kunzmann bereitet Qualle zu.

Die Quallenstreifen haben kaum Eigengeschmack, ihre gelatineartige Konsistenz erinnert an Muscheln; allerdings braucht es kaum die Zähne, um sie zu zerdrücken. Aber mit dem zarten Feldsalat und den Meerestrauben, die wie Kaviar am Gaumen platzen, fügen sie sich zu einer knackigen Frische, die ganz leicht nach Meer schmeckt. Es geht aber auch deftiger. Auf den Philippinen kombiniert man Quallen mit kleinen Anchovis, sagt Kunzmann. In Europa, wo es eher Befremden weckt, die Nesseltiere zu essen, dürften dagegen Umwege nötig sein, um die Menschen von deren kulinarischen Vorzügen zu überzeugen.

Cassiopea lässt sich auch zu relativ gesunden Snacks verarbeiten, sagt Kunzmann. Chips aus getrockneten Mangrovenquallen etwa bestünden zur Hälfte aus Proteinen und enthielten etwa zehn Prozent Fett (handelsübliche Kartoffelchips: etwa sechs Prozent Eiweiß und über ein Drittel Fett). Berührungsängste könnten sich aber auch überwinden lassen, sagt Kunzmann, indem die Tiere schlicht zu eiweißhaltigem Pulver weiterverarbeitet würden. Das wiederum lasse sich zu Burger-Pattys oder fischstäbchenähnlichen Happen für die Bratpfanne formen. Bisher allerdings sind solche Pläne reine Theorie.

Die Novel-Food-Verordnung der EU schreibt vor, dass in Europa bisher nicht übliche Lebensmittel eine Zulassung brauchen, bevor sie vermarktet werden dürfen. Und die zu bekommen, ist teuer: Allein die Vorschrift, sämtliche Inhaltsstoffe bei zertifizierten Laboren untersuchen zu lassen, würde uns 33 etwa 50.000 Euro kosten, sagt Kunzmann. Um die Zulassung finanzieren zu können, müsse das ZMT mit einem Lebensmittelhersteller zusammenarbeiten. Wir sind mit verschiedenen Unternehmen im Gespräch.

Andreas Kunzmann isst seinen "Quallen-Salat" mit Stäbchen.
Der zubereitete "Quallen-Salat" nach japanischer Art angerichtet.
Nahaufnahme einer Qualle am Boden des Auqariums.

Sollten Quallen auf deutschen Tellern einmal so gewöhnlich sein wie im Osten Asiens, wäre das nicht nur gut für die Umwelt. Es könnte auch Quallenblüten in eine Art Erntedankfest verwandeln. Im Gegensatz zu vielen anderen Tieren profitieren Quallen vom Klimawandel; wenn Temperatur und Nährstoffdichte der Meere steigen, dürfte es im Sommerhalbjahr künftig noch häufiger dazu kommen, dass sie sich massenhaft vermehren.

Chinesische Fischer fahren inzwischen gezielt an Orte, an denen zigtausende Quallen gleichzeitig auftreten, sagt Kunzmann. Statt Fischen landeten dann eben Quallen in den Netzen. Machbar wäre das durchaus auch in Nord- und Ostsee, wo etwa die Ohrenqualle mit ihren vier namensgebenden Kringeln im durchsichtigen Schirm heimisch ist. Sie hat kaum Nesselzellen, sagt Kunzmann. Solange die Tentakel entfernt würden, sei sie absolut genießbar.

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